Schmetterlingsgeschichte: „Frei“

pfauenauge-11-12

pic by Laurence Destrade

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Zur Nacht noch eine neue Kurzgeschichte, die ich gerade geschrieben hab. Sie könnte ein Märchen sein, oder auch nicht… Die Formatierung funktioniert irgendwie nicht mehr, also seid nachsichtig, wenn die Absätze fehlen… :-/

 

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Frei
Lisa war 12, und sie hatte seit vier Jahren Leukämie. Immer wieder musste sie ins Krankenhaus und verpasste in der Schule so viel Stoff, dass sie im letzten Schuljahr sitzenblieb.
Ihre Oma Elisabeth saß wie so oft zuvor an ihrem Krankenhausbett, nachdem ihre Mutter ihr am Telefon gesagt hatte, dass sie die sechste Klasse wiederholen muss. Oma war immer da, wenn sie im Krankenhaus war, weil sie nicht arbeiten musste, und weil sie Lisa sehr lieb hatte. Das wusste sie. Ihr konnte sie alles sagen, was sie bedrückte.
„Oma“, flüsterte Lisa, „warum ist Gott so ungerecht?“
„Warum denkst du denn, dass er ungerecht ist, Kleines?“, fragte Oma.
„Ach, ich habe so oft so fürchterliche Schmerzen, und ich weiß, dass ich bald sterben muss, und jetzt lässt er mich auch noch sitzenbleiben. Ich hab doch in meinem ganzen Leben nichts Böses getan! Warum tut er mir das an? Soll das etwa gerecht sein? Gott ist ungerecht!“ Lisa weinte.
„Ich glaube nicht, dass Gott dir je etwas Schlechtes antun wollte. Oh, wie soll ich dir das nur erklären, mein Schatz?“, seufzte die Oma. „Erzähl mir doch ein bisschen von der Schule“, lenkte sie ab. „Gehst du denn immer noch gerne hin?“
„Naja, eigentlich schon“, sagte Lisa, „aber ich hab halt keine Freunde, weil ich so oft weg bin, und weil ich krank bin, und wegen Theo.“
„Wer ist denn Theo?“, fragte Oma. „Von dem hast du mir ja noch nie erzählt. Ist er dein Freund?“
„Ja, er ist mein bester Freund, aber er hat nur einen Arm. Sein rechter Arm ist nur ganz kurz, aber er hat trotzdem eine Hand und Finger. Alle nennen ihn Mongo und hänseln ihn, obwohl er sehr gut ist in der Schule, aber ich helfe ihm immer. Ich glaube deshalb mögen mich die anderen nicht.“
Der Oma standen auch die Tränen in den Augen, als sie sagte: „Lisa, ich glaube ich weiß jetzt, wie ich es dir erklären kann. Gott hat dir etwas sehr Wertvolles geschenkt: Das Mitgefühl und die Liebe. Deine Krankheit und die Schmerzen haben dein Herz geöffnet für diesen Jungen. Durch sie konntest du erst wissen, wie er sich fühlt, und durch sie bist du so mitfühlend geworden. Schau dir doch die anderen Kinder an, die ihn hänseln. Sie sind nicht so wie du, weil ihre Herzen noch verschlossen sind, während deines jetzt vorbehaltlos lieben kann.“
Die Oma sah, wie es in Lisa arbeitete. Sie schaute verwirrt und traurig, aber nach einer Weile hellte sich ihr Blick auf und sie lächelte zum ersten Mal seit Wochen wieder. „Oma“, sagte sie, „du hast recht. Ich glaube wenn ich die Leukämie nicht bekommen hätte, dann wäre ich anders. Vielleicht wäre Theo dann gar nicht mein Freund. Das wäre ja furchtbar! Vielleicht ist Gott ja doch gerechter, als ich dachte…“
Zwei Wochen später starb Lisa. Über tausend Menschen kamen zu ihrer Beerdigung. Ganz vorne am Grab standen ihre Mitschüler. Alle weinten und schauten ganz traurig, als der kleine weiße Sarg ins Grab hinuntergelassen wurde.
Etwas abseits stand ein Junge unter einer Birke. Lisas Oma schaute zu ihm hinüber und erkannte ihn an seinem rechten Arm. Theo lächelte sie an und bewegte den Kopf vorsichtig nach rechts. Die Oma konnte kaum glauben, was sie sah: Auf seiner „verkrüppelten“ Hand saß ein großer, bunter Schmetterling. Theo sagte etwas, und obwohl die Oma es nicht hörte, las sie die Worte von seinen Lippen ab: „Sie ist frei.“
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